Mit 1000 Bildern durch 700 Jahre Beilsteiner Geschichte 13
Von den Beilsteiner Sukkot-Dächern, oder wie die örtlichen Juden göttliche Gebote während des Laubhüttenfestes kreativ umsetzten.
Die Fotografien bilden die bis 1963 in Beilstein bestehende Jugendberge (heute Gästehaus des „Hotel Haus Lipmann“) ab. Das schiefer-gedeckte Satteldach konnte während des Laubhüttenfestes sowohl auf der nördlichen, als auch der südlichen Seite teilweise aufgeklappt werden. (Beide Aufnahmen um 1890-1900)
Zur Geschichte des Sukkotfestes
Das Sukkotfest oder Laubhüttenfest wird von den Juden in jedem Herbst als „Fest des Einsammelns“ nach der Obsternte und der Weinlese gefeiert (2). Zunächst war das Fest ein reines Erntedankfest, welches fröhlich mit Tanz und einem gemeinsamen Festessen am Wohnort begannen wurde. In späterer Zeit wurde es mit einer Wallfahrt zum Tempel in Jerusalem verbunden. Das einwöchige Fest begeht den ersten und den achten Tag als Höhepunkte. Am letzten Tag wird das Fest mit einem großen gemeinsamen Gottesdienst beendet. Neben dem Passachfest (3) und dem Shavuot/Wochenfest (4) gilt das Sukkotfest als eines der wichtigsten Feste im jüdischen Jahreskreislauf. Es fällt nach dem jüdischen Kalender in den siebten Monat (Tischri), auf den 15. Bis 21. Tag dieses Monats. Die Umrechnung in einen christlichen Monat muss unter Berücksichtigung der jüdischen Schaltjahre vorgenommen werden, fällt aber grundsätzlich in die Herbstmonate September oder Oktober (5).
„Mose führt das Volk Israel durch das Meer“ –
Darstellung des 12. Jahrhunderts aus dem Hortus Deliciarum der Äbtissin Herrad von Landsberg.
Nach der Wüstenwanderung der Israeliten, d.h. der Flucht aus Ägypten unter der Anführerschaft Moses bekam das Sukkotfest eine weitere Bedeutung.
Es erinnert alljährlich an die Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei. Die Tora beschreibt die entbehrungsreiche vierzigjährige Wüstenwanderung der Israeliten auf der Suche nach dem gelobten Land.
In dieser Zeit boten lediglich Zelte und provisorisch errichtete Hütten Schutz vor Wind und Wetter.
Zur Bedeutung der Sukkah (Laubhütte)
Der alte Brauch der Israeliten acht Tage lang, während der Festwoche in einer sukkah, also einer Hütte aus Laub und Zweigen zu wohnen, besteht im Judentum bis heute. Ein möglicher Bezugspunkt waren die Weinbergshütten, die man im Weinberg während der Weinernte errichtete. Hütten aus Zweigen und Blättern geformt, sollten zeitweise Schutz und Übernachtungsmöglichkeit bieten. Dieser Erklärungsansatz würde den Laubhütten Beilsteins, als einem Ort mit jahrhundertealter Weinbautradition noch eine ganz besondere Bedeutung verleihen. Der religiöse Hauptgrund für die Errichtung von Laubhütten findet sich, wie bereits erwähnt in der Tora und wird begründet mit einer Anweisung Gottes auf dem Berg Sinai an Moses. In der Tora steht geschrieben:
„Am 15. Tag des 7. Monats, wenn ihr die Ernte eingebracht habt, sollt ihr sieben Tage lang das Laubhüttenfest zu meiner Ehre feiern. Der erste und der achte Tag sind Ruhetage. Am ersten Tag sammelt ihr die schönsten Früchte eurer Bäume sowie Palmwedel, Zweige von Bachpappeln und anderen dicht belaubten Bäumen. Feiert sieben Tage lang ein fröhliches Fest für mich, den Herrn, euren Gott. Jedes Jahr sollt ihr im siebten Monat eine Woche lang feiern! Diese Ordnung gilt für alle Generationen, wo auch immer ihr lebt. Während der Festwoche sollt ihr in Laubhütten wohnen; das gilt für alle Israeliten im Land. So behalten eure Nachkommen für alle Zeiten im Gedächtnis, das ich euch Israeliten in Laubhütten wohnen ließ, als ich euch aus Ägypten führte. Ich bin der Herr, euer Gott!“ (6) Diese in der Tora recht genau beschriebene Vorgehensweise gibt die wichtigsten Anleitungen zum Bau einer temporären Hütte vor. Die Hütte soll zeitweise für die Dauer des Laubhüttenfestes errichtet werden. Die Wände können aus unterschiedlichen Materialien bestehen (Holz, Flechtwerk, Stoffbahnen oder ähnliches). Das Dach soll weitestgehend offen gestaltet sein. Über einem Gitterwerk werden Palmwedel, großblättrige Pflanzen oder auch Zweige von Nadelbäumen gelegt. Die schattenspendende Wirkung darf Regen nicht gänzlich abhalten. Sonnenlicht, Mondschein und Sterne sollen die Dachabdeckung durchdringen können. Im Laufe der Zeit haben sich viele Familien ihre Sukkothütten aus vorgefertigten Teilen zusammengestellt, die zu Beginn des Festes nur noch zusammenmontiert werden mussten. Kaum eine hat die Verfolgungszeit im Nazi- Deutschland überstanden.
Ein seltenes Beispiel ist die sogenannte „Fischacher Laubhütte“, die 1937 von einer Jüdin bei der Flucht aus ihrem bayerischen Dorf nach Palästina in Einzelteilen, verpackt in einer großen Holzkiste, mitgenommen wurde.
Die um 1840 von einem Schreiner angefertigte Fischacher Laubhütte schmückt sich im Inneren mit wertvoller Bemalung.
Nur selten waren die Hütten so kostbar ausgestaltet. Die Art und Weise, wie die Sukkothütte ausgeschmückt wurde, war durchaus ein Spiegel für die gesellschaftliche Stellung der Besitzerfamilie.
Bernard Picart bildet in seiner Darstellung aus dem Jahre 1722 eine recht luxuriös gestaltete Hütte ab.
So etwas konnte sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts nur eine betuchte bürgerliche Familie leisten.
Laubhütten, die sich auf einem Dachboden befanden waren eher selten.
Um die Vorschrift aus der Tora nach der Durchlässigkeit von Sonnen- und Mondlicht nachzukommen, musste ein Teil der äußeren Dachhaut aufklappbar sein, was technisch nur schwer umsetzbar war.
Daher blieb diese Methode ein seltener Ausnahmefall.
Der ursprüngliche Ortskern Beilsteins umfasste bis zur Erschließung des Neubaugebietes in den 1980er Jahren nur einige hundert Quadratmeter. Die 1310 errichtete Stadtmauer unterhalb der Burg ließ nur Raum für den Marktplatz und wenige winzige enge Gassen. Die Bebauung war dementsprechend kleinteilig und eng. Das Anwachsen der Einwohnerschaft seit dem ausgehenden Mittelalter führte zu weiteren Anbauten, Aufbauten und Erweiterung bestehender Bausubstanz.
Eine stetige Verdichtung der Bebauung war das Ergebnis dieser Entwicklung. (8) Kaum ein Haus besaß einen Hof, Garten oder Vorplatz. Diese Gegebenheit erlaubte es den jüdischen Beilsteinern kaum ihre Laubhütten während des Sukkotfestesim Freien zu errichten.
Jüdisches Wohnhaus an der Klostertreppe (heute Ferienpension Sausen), lt. Bericht der Besitzer und des Beilsteiner Dachdeckers Gietz bis in die 1970er Jahre Sukkotluke im oberen Bereich des Mansarddaches nachweisbar.
Nicht exakt zuzuordnende Abbildung eines Beilsteiner Sukkot-Daches, entnommen aus einer Beilage des Frankfurter Volksblattes, Amtliches Organ der NSDAP für den Gau Hessen-Nassau.
Die Auswahl des Bildmaterials, vor allem die Abbildung des Sukkot-Daches in diesem Zeitungsartikel über die Beilsteiner Familie Koppel zeigt, dass auch den Machern eines NSDAP Pamphletes die Bedeutung solcher Dächer im Erscheinungsjahr 1937 durchaus bekannt war.
Das letzte noch vorhandene Haus in Beilstein (nach der letzten Besitzerin genannt: „Sann`sche Haus“), versehen mit einem Sukkotdach wurde Anfang der 1990er Jahre abgerissen. Die letztmalige Nutzung der Dachöffnung dürfte da aber schon rund 70 Jahre in der Vergangenheit gelegen haben. Einige Fotodokumente haben sich erfreulicherweise erhalten.
Bei Umbauten und Abrissarbeiten stieß man in den letzten Jahren auf bauliche Fragmente und Spuren im Dachbereich, aber auch im Inneren der ehemals jüdischen Wohnhäuser.
Grob gesagt funktionierten die kippbaren Dachflächen (in Beilstein zwischen einem und drei Quadratmeter groß) ähnlich wie ein modernes Dachfenster. Über die Mittelachse wurde das Dachelement um etwa 90 Grad gedreht. Mit Hilfe von Seilen und Gegengewichten wurde der Vorgang erleichtert und der kippbare Dachbereich an der gewünschten Stelle arretiert.
Heute gibt es noch zwei lebende Zeitzeugen im Ort, die Örtlichkeit und Gestaltung der Sukkotdächer aus eigener Beobachtung bezeugen können.
Gertrud Ostermann (geb. 1944) hat im Dachbereich des heutigen Hotels „Gute Quelle“ ihr Kinder- und Jugendzimmer besessen. Sie kann Aussehen und Funktion der ehemaligen Sukkot-Luke im Inneren des Dachstuhles heute noch beschreiben.
Das Foto aus dem Jahr 1935 lässt die Ausmaße anhand der sichtbaren Schattenkanten gut nachvollziehbar machen.
Der 1934 geborene Bernd Jobelius berichtet gerne über sein „Weihnachtserlebnis“ im damaligen Elternhaus in der Beilsteiner Weingasse.
Das Gebäude im jüdischen Besitz, an die alte Synagoge angrenzend und lange Zeit genutzt als Wohnhaus für den jüdischen Lehrer und Schlächter, wurde 1925 von seinen Eltern gekauft.
Die Familie Jobelius wohnte hier mit ihren Kindern.
Im dritten Stock wurde das Wohnzimmer eingerichtet. In der Wohnzimmerdecke gab es eine Holzluke, die den Dachboden mit dem Wohnzimmer verband. Bei geöffnetem Sukkotdach und offener Luke konnte die hier vormals wohnende jüdische Familie das komplette Sukkotfest in ihrem Wohnzimmer zubringen.
Bernd Jobelius nutzte die vorhandene Luke in den 1930er und 1940er Jahren als Kind, um über den Umweg Dachboden in das verschlossene „Weihnachts-Wohnzimmer“ zu gelangen und von den Süßigkeiten zu naschen.
Ebenfalls in der Weingasse befindet sich ein langgestrecktes dreistöckiges Wohnhaus. Auch hier wussten sich die ehemals jüdischen Bewohner zu helfen, was die Einhaltung der Toravorschriften während des Laubhüttenfestes betrifft.
Während der Renovierungsarbeiten in den 2010er Jahren kam eine etwa 120 X 120 Zentimeter große Aussparung im Dielenboden zwischen dem 1. Stock und dem Parterrebereich zu Tage.
Diese Aussparung ergibt nur Sinn, wenn es in den drei Ebenen darüber bis in den Dachbereich hinein ebenfalls Öffnungen gegeben hat. Diese Sukkot-Luke mit Maßen von ca. 200cm X 100cm ist zugleich die größte nachweisbare Dachöffnung im Ort. Das Beispiel zeigt, wie fantasievoll Juden in Beilstein vorgegangen sind um einerseits ihren Wohnkomfort beizubehalten und gleichzeitig die halachischen Gesetze zum Laubhüttenfest einzuhalten.
Alle diese Beispiele sind in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten leider nicht festgehalten und dokumentiert worden. Das Bestehen der Sukkot-Dächer als einzigartiges kulturhistorisches Zeugnis für das jahrhundertealte jüdische Leben in Beilstein hat sich nur in wenigen fragmentalen Bilddokumenten und Zeitzeugenberichten erhalten.
Quellen
- Schleindl Angelika: Spuren der Vergangenheit. Jüdisches Leben im Landkreis Cochem-Zell, hrsg. Vom Landkreis Cochem-Zell, Briedel 1996, S. 132
- 2. Buch Mose 23, 16
- Das Pessachfest war in der 600 Jahre währenden Zeit des zweiten Jerusalemer Tempels (etwa 530 vor unserer Zeitrechnung bis 70 n.u.Z.) eines der drei Wallfahrtsfeste. Das Familienfest beginnt am Vorabend mit dem traditionellen Sederabend und wird in der Woche vom 15.-22. Nisan gefeiert (in Israel ein Tag weniger). Nach Umrechnung der jüdischen Zeitrechnung fällt Pessach in die Monate März oder April. Während des einwöchigen Festes verzehrt man ungesäuertes Brot (Matze). Pessach erinnert an den Auszug der Israeliten aus Ägypten (Exodus) als Erinnerung an die Befreiung der Israeliten aus der Sklaverei.
- Das Shavuotfest oder Wochenfest wird jährlich am 6. Siwan gefeiert. Das sind sieben Wochen nach Pessach und fällt nach Umrechnung entweder in den Monat Mai oder Juni. Das Fest hat mehrere Bedeutungen. Es ist ein Erntedankfest und bezieht sich insbesondere auf die Weizenernte, soll aber auch an den neuerlichen Empfang der steinernen Gesetzestafeln durch Mose am Berg Sinai erinnern. In der Synagoge verbringen viele Gläubige Zeit mit dem Lesen der Tora, insbesondere dem Studium der zehn Gebote.
- Die jüdische Tora datiert die Schöpfung der Welt 3761 Jahre vor den Beginn der christlichen Zeitrechnung. Um von der christlichen Jahreszählung zur jüdischen Zählung zu gelangen muss man grob gerechnet 3760 Jahre hinzuzählen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der jüdische Kalender in einem Zeitabschnitt von 19 Jahren in jeweils sieben Jahren (Schaltjahren) einen zusätzlichen 13. Monat vergibt. Das macht den direkten Vergleich mit dem christlichen Kalender komplizierter und bedarf bei der Bestimmung eines exakten Datums einer präzisen Umrechnung.
- 3. Buch Mose 23,39-42
- hdbg.eu/juedisches_leben/gemeinde/fischach/270
- vgl.: Vogts Hans: Kunstdenkmäler in der Rheinprovinz – Band Kreis Zell, Düsseldorf 1938, S. 55-79
- Schleindl Angelika: Spuren der Vergangenheit. Jüdisches Leben im Landkreis Cochem-Zell, hrsg. Vom Landkreis Cochem-Zell, Briedel 1996, S. 132ff
- www.juedisches-museum.org
Vom jüdischen Beilsteiner Berthold Koppel und dem FC Bayern München
Die Gründungsmannschaft des FC Bayern München im Jahre 1900
Da gibt es historische Zusammenhänge, die das Leben schreibt, die man kaum glauben kann.
Der FC Bayern München hatte bis 1935 zahlreiche jüdische Vereinsmitglieder, Vorständler und Sponsoren, mit Kurt Landauer bis März 1933 sogar einen langjährigen jüdischen Präsidenten.
Bis 1933 waren etwa zehn Prozent der FC Bayern Mitglieder jüdischen Glaubens.1935 wurden diese dann per Satzungsbeschluß zwangsweise ausgeschlossen.
Zahlreiche Sponsoren entstammten der jüdischen Textilkaufmannschaft, so auch der jüdische Textilunternehmer Berthold Koppel.
Die Familie Koppel verlässt mit ihren vier Kindern Ende November 1908 das beschauliche Beilstein und zieht nach Bingen. Im August 1922 geht der junge Berthold nach München, wo der Bruder seiner Mutter Leopold Wirth wohnt. Die dortige Verwandtschaft mag ihm den Start erleichtert haben. Onkel Leopolds Ehefrau Paula Wirth geb. Lipcowitz (* 1884) hat eine fünfzehn Jahre jüngere Schwester. Berthold verliebt sich in die Schwester Lilly Lipcowitz (*14.1.1899) und das Paar heiratet. Am 26. April 1925 kommt das Töchterchen Annemarie Rosalie Koppel zur Welt.
Auch beruflich hat er einen gewissen Erfolg. Er ist im Textilhandel tätig und wird schließlich seit dem 25. Februar 1925 als Alleininhaber der Firma Koppel & Steinberg in der Münchener Neuhauserstrasse 21/ II benannt. Der kleine Betrieb fertigt Krawatten und beschäftigt zu dieser Zeit fünf Näherinnen, eine Angestellte, zwei Arbeiterinnen und ein Lehrmädchen.
Berthold Koppel führt seinen Betrieb auch durch die schwierigen Jahre der Weltwirtschaftskrise, muss diesen aber nach dem Novemberpogrom und den sich anschließenden gesetzlichen Verordnungen zwangsweise am 30.11.1938 abmelden.
Kurt Landauer (1884-1961)
In den 20er Jahren engagiert sich Berthold Koppel als Fußballfan für seinen Lokalverein, den FC Bayern München, dessen Mitglied er 1926 wurde.
Unter den etwa tausend jüdischen Münchenern, die im Zuge der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 in das Konzentrationslager Dachau verschleppt und dort gequält und drangsaliert werden, befinden sich 19 Mitglieder des 1. FC Bayern München.
Neben dem ehemaligen, bis März 1933 amtierenden jüdischen VereinspräsidentenKurt Landauer , der am Tag nach dem Pogrom verhaftet wird, findet sich auch Berthold Koppel für einige Zeit im KZ Dachau wieder.
Wie es ihm dort erging, können wir heute nur vermuten. Ende November muss er sich wieder auf freiem Fuß befunden haben um sein Gewerbe auf behördliche Anordnung hin abzumelden.
Wovon die Familie Koppel in den darauffolgenden Monaten gelebt hat ist nicht bekannt. Wahrscheinlich hat sie ihre Ersparnisse aufgebraucht.
Welche Wertstücke man ihnen abnahm, ist heute nicht mehr genau zu sagen. Zumindest ein Wertgegenstand ist in seiner Provenienz von 1939 bis heute genau nachvollziehbar. Dieser silberne, in Restbeständen noch vergoldete Kidduschbecher, gefertigt im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts lt. Punze vom Stuttgarter Hofsilberschmied Johann Christian Sick (1766-1824) musste von Berthold und Lilly Koppel 1939 an das städtische Leihamt München übergeben werden.
Aufgrund seiner kunsthistorischen Bedeutung wurde er nicht eingeschmolzen sondern befindet sich seit 1940 im Besitz des Bayerischen Nationalmuseums. Der Versuch der Finanzmittelstelle München des Landes Bayern in den Jahren 1961-69 zur Restitution d.h. Rückübertragung an möglicherweise noch lebende Erben verlief im Sande. Offensichtlich waren die Bemühungen nicht allzu umfangreich.
So lebte 1961der Bruder Fritz Koppel noch in Illinois/ USA, was über seine Emigration im Jahre 1938 sicherlich nachvollziehbar gewesen wäre. Der Silberbecher befindet sich bis heute unter der Inventarnummer 40/12 im Bayerischen Nationalmuseum München.
Gustav Lipcowitz (1859-1942)
1939 versucht Berthold für sich, seine Frau und Tochter eine Ausreise in die USA zu organisieren, was seinem Bruder Fritz ein Jahr zuvor noch gelungen war. Was diese Emigration verhinderte ist nicht bekannt.
Möglicherweise konnte er den verlangten Betrag für die seinerzeitige und sogenannte „Reichsfluchtsteuer“ nicht mehr aufbringen. Ein Wohnungswechsel im Sommer 1939 weist auf eine wohl prekäre finanzielle Situation hin.
Seit dem 25. Juni 1939 ist die dreiköpfige Familie gemeldet bei Lillys Onkel in der Holzkirchenerstrasse 5, einem Wohnhaus, welches sich bis 1938 sogar im Besitz des Onkels Gustav Lipcowitz befand. Die vorherige eigene Wohnung in der Elisabethstraße 13 kann von Berthold und seiner Frau Lilly wahrscheinlich aus finanziellen Gründen nicht gehalten werden. Gustav Lipcowitz (*18.11.1859) war der Bruder von Lillys Vater Joseph Lipcowitz (1856-1927). Onkel Gustav veräußerte am 14. Dezember 1938, wenige Wochen nach der Pogromnacht seine Immobilie an die Vermögensverwertung München GmbH.
Eine Maßnahme, die zu jener Zeit kaum ganz freiwillig geschehen sein dürfte und mit dem Wort „Arisierung“ beschönigend bezeichnet wurde. Diese GmbH wurde von Münchener NSDAP Funktionären eigens gegründet um jüdische Vermögenswerte und Unternehmen zu „arisieren“.
Gustav Lipcowitz wird 1942 deportiert und schließlich am 1. Oktober 1942 im KZ/Ghetto Theresienstadt ermordet.
Knapp drei Jahre nach dem Umzug in die Holzkirchenerstrasse, am 4. April 1942, wird auch Berthold Koppel, gemeinsam mit Ehefrau Lilly und der sechzehnjährigen Tochter Annemarie Rosalie von München aus deportiert in das Ghetto Piaski.
In den frühen Morgenstunden des 4. April 1942 verließ dieser Transport das Sammellager Milbertshofen über den Güterbahnhof Milbertshofen in München mit 774 Personen.
Zwei Männer wurden in letzter Minute noch von der Deportationsliste gestrichen.
In Regensburg kamen weitere 213 jüdische Menschen hinzu.
Von den 987 Deportierten , die den Zielort Piaski zwei Tage später am 26. April erreichten, war die Jüngste die sechzehnjährige Annemarie Rosalie Koppel.
Zu diesem Zeitpunkt war sein älterer Bruder Karl (*7.7.1891 in Beilstein) und seine jüngere Schwester Irma Marx , geb. Koppel (* 23.10.1898 in Beilstein) möglicherweise nicht mehr am Leben.
Beide wurden mit ihren Ehepartnern und Kindern wenige Tage zuvor am 20. März von ihrem damaligen Wohnort Bingen in das von den Nazis eingerichtete Durchgangsghetto Piaski bei Lublin im besetzten Polen deportiert.
Ein absolut ungewöhnliches Fotodokument. Die beiden Fotos bilden die Sammelstelle vor der Stadthalle in Bingen ab, von der am Morgen des 2o. März 1942 insgesamt 152 jüdische Binger Richtung Osten deportiert wurden, 76 von ihnen nach Piaski. Der Binger Fotograf Karl Kühn ging ein hohes Risiko ein, waren private Fotografien jeglicher Einzelheiten des Deportationsgeschehens strengstens verboten. Die Fotos lassen eine genaue Bestimmung von Personen nicht zu, lassen jedoch die Möglichkeit offen, hier Mitglieder der Familien Koppel und Marx zu betrachten.
Der Transport verließ Deutschland über die Sammelbahnhöfe Mainz und Darmstadt und erreichte Lublin bzw. das Ghetto Piaski drei Tage später am 23. März 1942. Ob die beiden Familien in den kommenden Tagen im völlig überfüllten Piaski zu Tode kamen oder sich in den, im Juli und August stattgefundenen Transporten von Piaski aus in das Vernichtungslager Belzek befanden ist nicht bekannt. Im Juli und November wurden die noch verbliebenen Häftlinge in das Vernichtungslager Sobibor verschleppt. Ob Berthold im Ghetto Piaski seine Geschwister und Verwandten noch einmal gesehen hat ist nicht zu sagen. Ebenso bleibt im Dunkeln wann und wo die Familien Koppel aus München und die Binger Familien Marx und Koppel schlussendlich ermordet wurden.
Lediglich der jüngere Bruder Fritz (*11.2.1893 in Beilstein) konnte sich 1938 durch recht-zeitige Emigration in die USA in Sicherheit bringen und lebte in Illinois / USA bis 1961.
An den 1895 geborenen Beilsteiner Berthold Koppel erinnert heute in Beilstein nichts mehr.
Auch seinem Bruder Karl und Schwester Irma wird nirgendwo im Ort gedacht.
Seinen beiden Geschwistern und ihren ermordeten Familienangehörigen wird in ihrem letzten Wohnort Bingen seit einigen Jahren mittels einer Gedenktafel auf dem jüdischen Friedhof gedacht.
Auch hat der Kölner Künstler Gunther Demnig zum Gedenken an die Familien Koppel (Rochusstrasse 10) und Marx (Schmittstrasse 33) sogenannte
„Stolpersteine“ in das Binger Strassenpflaster eingesetzt.
Medienempfehlung
Kurt Landauer der Präsident, dt. Spielfim von 2014
Judensiedlung Milbertshofen: Gedenkbuch der Münchener Juden
Institut für Zeitgeschichte: Der FC Bayern München und der Nationalsozialismus
Literaturempfehlung
Schulze-Marmeling Dietrich: Der FC Bayern, seine Juden und die Nazis
Hofmann Gregor: Mitspieler der Volksgemeinschaft. Der FC Bayern und der Nationalsozialismus