Mit 1000 Bildern durch 700 Jahre Beilsteiner Geschichte 11
Vom ungewöhnlichsten Beilsteiner Gotteshaus, dem Obermedizinalrat Hopstein und seiner armenischen Frau

Ehemalige Pfarrkirche, heute Bürgerhaus
Religion war für die Beilsteiner über Jahrhunderte sehr wichtig.
Seit der Stadtgründung 1310 bestimmten der katholische und der jüdische Glaube das Leben der Einwohner im Ort.
Beide Religionen besaßen ein eigenes Gotteshaus bzw. Synagoge.
Die katholische Pfarrkirche befand sich bis 1805 auf dem Marktplatz im heutigen Bürgerhaus, die Synagoge in der Weingasse 13 im ehemaligen jüdischen Viertel.
Die Besetzung des linken Rheinlandes durch das revolutionäre Frankreich 1794 führte in der Folge zur Säkularisation d.h. Aufhebung des Karmelitenklosters durch die französischen Behörden.
Die Pfarrgemeinde verlegte 1805 ihre Pfarrkirche in die nun leerstehende Klosterkirche auf dem Kammerberg. Seitdem ist sie das Gotteshaus für die katholischen Beilsteiner.

Ehemalige Klosterkirche, heute Pfarrkirche St. Josef

Die jüdische Gemeinde zu Beilstein, die sich 1310 mit rund 50- 60 Gemeindemitgliedern im Ort niederließ, dürfte bestrebt gewesen sein rasch ein eigenes Bethaus bzw. Synagoge zu bauen.
Es spricht vieles dafür, dass sie dieses auf dem Grund der Synagoge in der Weingasse 13 getan hat.
Das Gebäude wurde in späterer Zeit immer wieder erweitert und umgebaut, der Kern dürfte wohl spätmittelalterlich sein.
Die Synagoge hat nachweislich noch im Jahre 1905 einen allwöchentlichen Schabbat-Gottesdienst beherbergt.
Sie wurde dann aber nach dem 1. Weltkrieg als Gotteshaus aufgegeben und 1925 mit der Selbstauflösung der „Israelitischen Gemeinde zu Beilstein“ an einen privaten Käufer veräußert.
Der evangelische Glaube hat in Beilstein zweimal eine Rolle gespielt.
Zunächst 1584 -1620 als Beilstein durch Erbschaft an Philipp II von Winneburg geraten war.
Dieser war einige Jahre zuvor zur Augsburger Konfession (dem protestantischen Glauben) übergetreten und konnte nach dem seinerzeit herrschenden Recht, dem Augsburger Religionsfrieden seine Beilsteiner Untertanen zwingen ebenfalls zum evangelischen Glauben überzutreten. („Wessen das Land, dessen die Religion“).
Mit der anschließenden 14 Jahre andauernden Besetzung der Spanier (1620-34) wurde Beilstein rekatholisiert, bis schwedische Truppen von 1634-36 noch einmal kurzzeitig den Protestantismus erzwangen.
Danach spielte der protestantische Glaube, wie in den allermeisten umliegenden Orten des Moselkrampens, keinerlei Rolle mehr.
Vereinzelte evangelische Beilsteiner, die durch Zuzug und Heirat im 20. Jahrhundert nach Beilstein gelangten, bildeten stets eine kleine Minderheit.
Ein evangelisches Gotteshaus wurde in Beilstein nie errichtet.


Absolut ungewöhnlich und deswegen an dieser Stelle zu erwähnen, ist der Bau einer winzig kleinen griechisch-orthodoxen Kirche im Jahre 1965 auf dem Baugrund des ehemaligen Klostersüdflügels.
Errichtet wurde diese Kirche vom seinerzeitigen Besitzer des Areals Wilhelm Hopstein und seiner armenischen Ehefrau Marina Hopstein.
Wer war Wilhelm Hopstein?
Der Oberregierungs- und Medizinalrat a.D. hatte die sogenannte Klosterburg (der süd-westliche Teil der ehemaligen Klosteranlage) von seinem Vater geerbt.
Hopstein Senior war Zahnarzt und hatte die weitläufige Immobilie um das Jahr 1900 erworben und hernach seinen Wohnsitz von Köln nach Beilstein verlegt.

Sein Sohn Wilhelm Hopstein (Jahrgang 1900) trat in die Fußstapfen seines Vaters und wurde ebenfalls Zahnarzt.
Wie so viele junge Akademiker nutzte er die Gunst der Stunde jener Jahre und machte als Parteimitglied überraschend schnell Karriere in Hitlers Staatsdienst.
1934 zieht er mit seiner Familie nach Leipzig und wird im Innenministerium von Sachsen und Thüringen u.a. zuständig für die Ausbildung und Aufsicht des Schulzahnarztwesens.
In der Folge wird er zum Oberregierungs- und Medizinalrat im Innenministerium befördert.


Er publiziert zahlreiche
zahnmedizinische Abhandlungen, 1936 sogar einen belletristischen Roman über seinen 1935er Sommerurlaub in Beilstein.
Eine Neuauflage wird 1941 publiziert und schließlich nach dem Krieg 1958 in einer dritten Auflage, diesmal (und dem Zeitgeist entsprechend) befreit von diversem Nazivokabular.
Ebenso entfällt in der Neuauflage Hopsteins begeisteter Bericht über seine Tätigkeit für die Leipziger 48. SS-Standarte auf dem Nürnberger Reichsparteitag vom 10. bis 16. September 1935, der in der 41er Auflage noch breiten Raum einnahm.


Nach dem Krieg kann oder will er seine Karriere im Staatsdienst nicht fortsetzten und übernimmt sein elterliches Erbe in Beilstein.
Er lässt sich hier als praktizierender Zahnarzt nieder. Seine Versuche auf der Klosterburg eine Art Kurheilstätte unter dem Namen „Mundbadeanlage, eine neuzeitliche Hydrotherapie der Kauorgane“ für gestresste Manager zu etablieren bleiben erfolglos. Die eigens von ihm gegründete esoterische „Gesellschaft für Körperpflege und Erholung (GKE)“ lässt das Ganze nicht seriöser erscheinen.
Weder seine Versuche mit Gastronomieangebot, noch seine Gästezimmervermietung führen zu wirtschaftlichem Erfolg.


Der Westflügel (blau markiert) und der ehemalige Wohnflügel des Priors (rot markiert) gelangen in den Besitz seiner Tochter Inge Louboutin, die dort bis in die 1990er Jahre ein Restaurant betreibt.
Der weitläufige Südflügel (gelb markiert) wird von einem Beilsteiner ersteigert, der auf das von W. Hopstein in den 60er Jahren errichtete Erdgeschoss des Flügels noch zwei weitere Etagen aufstockt.
Zugemauerte Eingangstüren und in den darauffolgenden Jahren ein rechtlicher Streit um das Zugangs- bzw. Wegerecht machen die Immobilie seit rund vier Jahrzehnten zu „Beilsteins verrücktestem Gebäude“. 750 Quadratmeter Gesamtfläche ohne jeglicher Zugangsmöglichkeit harren ungenutzt der Dinge, die da noch kommen mögen.

Werbekärtchen von Hopsteins Tochter Inge Louboutin, ca. 1970 mit Zimmerpreisen ab 12 DM
Das 1965 errichte griechisch-orthodoxe Gotteshaus (rote Pfeilmarkierung), wohl insbesondere zum Gefallen seiner armenischen Ehefrau errichtet, bleibt eine kurze und höchst skurrile Episode in der Beilsteiner Religionsgeschichte.


Innerer Eingang zur griechisch-orthodoxen Kirche, Aufnahme 1965

Südflügel im aktuellen Zustand. Seit nahezu vier Jahrzehnten stehen alle drei Etagen leer und besitzen weder einen Eingang noch einen Ausgang. (Aufnahme von 2022)
Nur wenige Jahre später machte die griechisch-orthodoxe Kapelle Platz für das zweite Stockwerk des neu errichteten riesigen Südflügels.
Literaturempfehlungen:
Hopstein F.W. und Rütters D.H.: Wächter an der Pforte – Ketzereien eines Zahnarztes, Leipzig, 1936
Hopstein Dr. Will und Rütters Hugo: Wächter an der Pforte – Eine heitere Moselerzählung trotz zahnärztlicher Ketzereien, Dresden und Planegg, 1941. II.Auflage
Hopstein Wilhelm: Intermezzo auf Burg Beilstein – Mosel, Beilstein, 1958, III.Auflage
Guggenbichler Norbert: Zahnmedizin unter dem Hakenkreuz, Frankfurt/ M., 1988 (hier Seite 254)
Bericht aus der Rhein Zeitung, 1965
Literaturempfehlungen:
Hopstein F.W. und Rütters D.H.: Wächter an der Pforte – Ketzereien eines Zahnarztes, Leipzig, 1936
Hopstein Dr. Will und Rütters Hugo: Wächter an der Pforte – Eine heitere Moselerzählung trotz zahnärztlicher Ketzereien, Dresden und Planegg, 1941. II.Auflage
Hopstein Wilhelm: Intermezzo auf Burg Beilstein – Mosel, Beilstein, 1958, III.Auflage
Guggenbichler Norbert: Zahnmedizin unter dem Hakenkreuz, Frankfurt/ M., 1988 (hier Seite 254)
Bericht aus der Rhein Zeitung, 1965
Vom jüdischen Beilsteiner Hugo Koppel und seiner spannenden Flucht aus Nazideutschland in letzter Minute

Hugo Koppels Schule auf dem Beilsteiner Marktplatz. Foto etwa 1910
Am 11. Dezember 1903 wird in Beilstein Hugo Koppel geboren.
Zu jener Zeit gab es noch etliche jüdische Familien im Ort, wenn auch die Bedeutung der israelitischen Gemeinde zu Beilstein, die um 1840 fast ein Drittel der Beilsteiner Einwohnerschaft ausmachte, von Jahr zu Jahr geringer wurde. So bekannten sich im Jahr 1904 von 220 Beilsteinern noch 39 zum jüdischen Glauben.
Die Geburt muss schlimm verlaufen sein, jedenfalls starb Hugo Koppels Mutter Rebecca an den Folgen der Geburtskomplikationen. Der Vater Karl Koppel, 1871 in Beilstein geboren betrieb als gelernter Metzger auf dem Beilsteiner Marktplatz einen kleinen Kolonialwarenladen.
Hugo wurde am 5. April 1910 in die Beilsteiner Volksschule eingeschult., wo er einer der wenigen jüdischen Schüler war.
Der seinerzeitige Lehrer Demmer war der einzige Lehrer in Beilstein und unterrichtete alle Schüler von der ersten bis zur 8. Klasse in einem Klassenraum gemeinsam.
Im Dezember 1916 feierte der Dreizehnjährige seine Bar Mizwa, ein jüdisches Fest für Jungen mit Erreichen der religiösen Mündigkeit. Das Foto zeigt ihn wohl an diesem Tag mit seinen Eltern vor einem alten Fachwerkhaus im Beilsteiner Mühltal.
Im Jahr des Kriegsendes wurde er mit Vollendung des 8. Schuljahres am 27. März 1918 aus der Schule entlassen. In meinem Archiv befindet sich die Beilsteiner Schulchronik mit den Abgangszeugnissen jenes Jahres. In ausnahmslos allen Fächern erhielt der Schüler Hugo hier die Note gut, in Mathematik und Fleiß sogar ein sehr gut! Sein großer Berufswunsch war es Zahnarzt zu werden.
Doch die finanziellen Nöte seiner Eltern, Vater Karl war mittler-weile in zweiter Ehe verheiratet mit Ehefrau Theresia ließen einen höheren Schulabschluss bzw. Universitätsstudium nicht zu.




Dieses Familienfoto bildet den jugendlichen Hugo im Alter von etwa 16 Jahren ab.
Neben seinem Vater und der der Stiefmutter ist auch seine Halbschwester Gertrude (1916-2019) zu sehen. Nach dem ersten Weltkrieg zog es den jungen Hugo nach Köln um dort eine Lehre als Automechaniker zu beginnen.
In den 1920er Jahren hat er rund sieben Jahre in Luxemburg in seinem Beruf gearbeitet. Seine Mutter Rebecca besaß Luxemburger Verwandtschaft, sodass er hier eine gewisse Unterstützung vorfand.
Nach seiner Luxemburger Zeit verschlug es den umtriebigen Hugo in die Hauptstadt Deutschlands nach Berlin.
Hier arbeitete er ab 1932 bis 1939 in der damals größten BMW Niederlassung Deutschlands BMW Pelzer Am Zoo als Serviceleiter und später als Geschäftsführer.
Nach der Erzählung seines Sohnes Rene Koppel trug er dort die Verantwortung für nahezu hundert Arbeiter und Angestellte, die für BMW Pelzer & Co in der Kantstraße 162 nahe des Zoos im Berliner Bezirk Charlottenburg beschäftigt waren.

Abbildung: Archiv BMW Group München

Seine Stellung hat ihm in diesen Jahren auch eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit verschafft.
Am 30. Dezember 1937 heiratet er Käthe Friedländer, das Foto entstand an diesem Tag vor einem Berliner Standesamt und zeigt das Paar vor einem BMW Cabriolet, einem geliehenen Firmenwagen der Firma BMW Pelzer & Co.
Nur drei Tage nach den pogromartigen Übergriffen der Nazis auf jüdische Synagogen, Geschäfte und Menschen in der Nacht vom 9. auf den 10.November 1938, anschließend beschönigend „Reichskristallnacht“ genannt, erließ die Reichsregierung die „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben vom 12. November 1938“. Diese Verordnung sah im §2 Abs. 2 unter anderem die Entlassung von Juden aus leitenden Angestelltenverhältnissen vor.


Nur drei Wochen später erließ Heinrich Himmler, Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei eine weitere Verodnung zur Schikanierung und Drangsalierung der Juden in Deutschland.
Bis zum 31. Dezember 1938 hatten diese ihre Führerscheine zum Führen eines Kraftfahrzeuges zwecks Entwertung abzugeben.
Für Hugo Koppel war das Verbot ein Auto zu fahren als Geschäftsführer einer großen Autofirma nunmehr eine untragbare Situation.

Abbildung: Archiv BMW Group München
Zu welchem Zeitpunkt Hugo und Käthe Koppel die Entscheidung trafen, Deutschland zu verlassen ist heute kaum zu sagen.
Die rassistischen Gesetze vom 12. November 1938, infolge derer seine Entlassung als Geschäftsführer der BMW Niederlassung Pelzer erfolgte und seine anschließende prekäre finanzielle Situation dürften den Entschluss bestärkt haben.
Das Organisieren der benötigten Ausreisepapiere, Visum des Aufnahmelandes, Schiffspassage, Zahlung der sogenannten Reichsfluchtsteuer, all das hat ihm in den ersten Monaten des Jahres 1939 wohl viel Kraft und finanzielle Mittel abverlangt.
Auch kann man davon ausgehen, dass er ab Herbst 1937 seine Eltern und seine Tante Mathilde Koppel in Beilstein mit Geldmitteln unterstützt hat.
Die Eltern mussten im Oktober 1937 ihren Beilsteiner Kolonialwarenladen aufgeben und waren fortan mittellos.
Dieses Pressefoto vom Herbst 1937 zeigt Hugos Vater Karl Koppel bei der Auflösung seines Ladengeschäftes in Beilstein, veröffent-licht in der NSDAP Zeitung Frankfurter Volksblatt vom 7. November 1937.

Mit sehr viel Glück erhielt das Ehepaar Koppel dann noch in der letzten Juniwoche 1939 eine Schiffspassage nach Bolivien.
Wenige Tage zuvor hat sich Hugo bei einem Besuch bei seinem Vater und seiner Stiefmutter, die wenige Wochen zuvor von Beilstein nach Köln gezogen waren, in ihrer Kölner Wohnung verabschieden können. In diesem Briefdokument vom 22.6.1938 beschreibt sein Vater diesen Abschied.
Nur wenige Wochen darauf wäre mit dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges am 1. September 1939 eine solche Emigration kaum mehr möglich gewesen. Aber auch in jenen Junitagen war eine Reise eines jüdischen Ehepaares quer durch Deutschland von Berlin zum Hamburger Hafen alles andere als ungefährlich.
Etliche Kontrollen und Schikanen der Nazibürokratie auf der Reiseroute hätten den Fluchtplan ganz zum Schluss noch vereiteln können.
Welcher Umstand hier zumindest dem Ehepaar Koppel im Juni 1939 noch einen glücklichen Ausgang bescherte, das ist eine Geschichte, die man sich kaum ausdenken kann. Aber sie ist so geschehen und könnte durchaus den Stoff für einen spannenden Historienfilm liefern.
Hugo Koppel muss von seinen Vorgesetzten und Mitarbeitern bei BMW Pelzer über seine langjährige Tätigkeit wohl recht gut gelitten und beliebt gewesen sein.
Jedenfalls haben ihm seine ehemaligen Kollegen im Juni 1939 ein sicheres Geleit aus der Reichshauptstadt Berlin zum Hamburger Hafen bereiten wollen. Man hätte das Ganze vielleicht in einem unauffälligen Lieferwagen oder LKW organisieren können – unsicher und mit hohen Risiken verbunden.
Die Kollegen entschieden sich für das genaue Gegenteil. Kurzerhand wurde eine standesgemäße BMW 6-Zylinder Limousine „ausgeliehen“, absurderweise auf dem Kotflügel mit einer Hakenkreuzstandarte ausgestattet.

Aufnahme aus dem Jahr 1932. Foto: Archiv BMWgroup München

Symbolbild einer Hakenkreuzstandarte
Wahrscheinlich handelte es sich um das Dienstfahrzeug irgendeiner Berliner Nazigröße, kurzzeitig zur Inspektion oder Reparatur bei BMW Pelzer hinterlassen.
In diesem Fahrzeug, welches sich aufgrund seines Äußeren leicht diversen Kontrollen und antisemitischen Übergriffen entziehen konnte, wurde Hugo und seine Ehefrau sicher in den Hamburger Hafen eskortiert.
Dass so etwas vier Jahre nach Verabschiedung der Nürnberger Rassegesetze und nur wenige Wochen vor Kriegsbeginn in Nazideutschland noch möglich war, ist wirklich unglaublich.
Die beiden Koppels erreichten wenige Wochen später sicher Bolivien, wo sie die folgenden sieben Jahre lebten.
Bolivien war 1939 eine der ganz wenigen Staaten der Welt, die überhaupt noch jüdische Flüchtlinge aufnahmen.
Nach dem Novemberpogrom vom 9./10. November 1938 erhöhte sich die Anzahl von Deutschen mit jüdischer Religion, die Hitlers Deutschland verlassen wollten bzw. mussten sprunghaft.
Verzweifelt waren sie auf der Suche nach einem Zufluchtsland. Die meisten Staaten reagierten in dieser Situation mit der Schließung ihrer Grenzen und einer sehr restriktiven Ausstellung von Einreisevisa.
Aus purer Not entschieden sich viele Juden für Länder die ihnen weder politisch, klimatisch oder sprachlich zusagten.

Dass in diesem Jahr Bolivien, gemessen an seiner Einwohnerzahl, von allen lateinamerikanischen Staaten proportional die meisten jüdischen Flüchtlinge aufnahm, fußte nicht auf einer humanistisch gesinnten Regierung in La Paz. Viele bolivianische Botschafts- und Konsulatsan-gehörige in den europäischen Großstädten waren zutiefst korrupt und verscherbelten Einreisevisa an die verzweifelten deutschen Juden. So geht man davon aus, dass alleine der bolivianische Generalkonsul in Paris 1939 tausende von Visa zum Stückpreis von 1500 Dollar ausstellte und damit ein wahres Vermögen anhäufte. Die meisten Juden betrachteten Bolivien nur als eine Durchgangsstation um dann nach Möglichkeit in die USA weiterzureisen. Das war aber selten möglich und so musste sich auch das Ehepaar Koppel zunächst einmal in der Hauptstadt La Paz niederlassen. Das Schaubild gibt einen Überblick welche Staaten der Welt zwischen 1933-1939 deutsche Juden aufnahmen.
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Einen ersten Schritt zur Aberkennung der Staatsbürgerschaft deutscher Juden betreffend bildete die Verabschiedung der sogenannten „Nürnberger Gesetze“ auf dem Reichsparteitag der NSDAP Im September 1935. Eines der drei Teilabschnitte war das Reichsbürgergesetz, welches die Deutschen nunmehr aufteilte in Reichsbürger (Angehörige „deutschen und artverwandten Blutes“) und als zweite und minderwertige Gruppe in die der „Staatsangehörigen“. Das waren alle Personen, die nicht unter diese Blutsdefinition fielen, so auch die jüdischen Deutschen. Letztere Gruppe verlor damit weitestgehend ihre politischen Rechte.

Am 5. November 1938 wurde die „Verordnung über Reisepässe von Juden“ erlassen. Fortan waren Juden durch ein großes rotes „J“ in ihrem Reisepass stigmatisiert und sofort als solche zu erkennen. Eine endgültige Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft erfuhren die, ins Ausland geflohenen deutschen Juden mit dem Erlass der „11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ vom 25. November 1941. Diesem Erlass zufolge verloren Juden „mit der Verlegung des gewöhnlichen Aufenthaltes ins Ausland“ automatisch ihre deutsche Staatsbürgerschaft. Perfider weise betraf das nachträglich nicht nur die Exilanten der Jahre 1933-41 sondern auch hunderttausende in die Konzentrationslager deportierte deutsche Juden, deren zurückgelassenes Eigentum auf dieser Rechtsgrundlage vom deutschen Staat konfisziert wurde. Dass in den amerikanischen Einwanderungsunterlagen Hugo Koppels versehentlich unter der Rubrik Rasse bzw. Ethnie HEBREW eingetragen wurde, war im Dezember 1946 sicher ein Versehen, zeigt aber wie der deutsche Antisemitismus und Rassismus auch zwei Jahre nach seinem kläglichen Ende seine Spuren im Verwaltungsapparat beispielsweise der USA hinterlassen hat.
Rene Koppel, nunmehr auch schon über 80 Jahre alt, hat diese ganze „verrückte“ Geschichte in späteren Jahren von seinem Vater berichtet bekommen und an der Glaubhaftigkeit ist nicht zu zweifeln.
Mit Rene Koppel habe ich mich im Frühjahr 2024 in einem Berliner Hotel getroffen und die Fluchtgeschichte seiner Eltern in einer NS-Staatskarosse war eine von vielen Geschichten, die ich an diesem Tag hören durfte.

Literatur- und Medienempfehlungen:
Stürmende Kräfte (BMW-Werbefilm, 1930/40er-Jahre)
Entzug der Staatsbürgerschaft, Geschichtswerkstadt Göttingen, Verfolgung und Emigration jüdischer BürgerInnen in Göttingen und Umgebung
Planet Wissen – Bedeutung der Bar Mizwa
Bieber Leon E.: Jüdisches Leben in Bolivien. Die Einwanderungswelle 1938-40.



